Berliner IG Metallerin bei Bundespräsident Steinmeier:

„Im Osten erlebe ich es anders als im Westen“

05.09.2018 | Ayse Harman (52) ist Vertrauensfrau der IG Metall und seit 2004 Betriebsrätin bei P&G Gillette. Die Sachbearbeiterin in der Zeitwirtschaft, die sich auch in weiteren Funktionen in der IG Metall und als ehrenamtliches Vorstandsmitglied im Bundesverband der Migrantinnen engagiert, diskutierte vor wenigen Tagen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und weiteren zwölf türkischstämmigen Berlinerinnen und Berlinern über Integration, Rassismus und die deutsch-türkische Freundschaft.

Nach der ersten kommt gleich die zweite Einladung: die Berliner IG Metallerin Ayse Harman mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Ayse, wie kam es zur Einladung beim Bundespräsidenten?
Der DGB hatte bei der IG Metall Berlin angefragt, und Regina Katerndahl, die Zweite Bevollmächtigte der Geschäftsstelle, hat mich dann gefragt, ob ich an der Gesprächsrunde teilnehmen möchte. Außer mir waren Lehrer, Ärzte, Studenten und Schüler da, die meisten sind wie ich deutsche Staatsbürger und leben schon sehr lange in Berlin. Ich war die einzige Betriebsrätin.

Was habt Ihr besprochen?
Zentrales Thema war, was man besser machen kann im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken. Was man ins Leben rufen könnte, damit es weniger Vorurteile gibt. Wir haben auch darüber geredet, wie man Rassismus erfährt. Ich habe auch von meinen Erfahrungen erzählt. Ich lebe seit 40 Jahren hier und habe grundsätzlich keine Probleme mit Rassismus, habe aber auch meine Erfahrungen sammeln müssen.

Wie ist es für Dich?
Ich habe wenig Probleme, auf der Arbeit zum Beispiel überhaupt nicht. Wir haben 16 verschiedene Nationalitäten, die bei Gillette arbeiten. Da gibt es keinen Rassismus. Und so einen Rassismus wie in Chemnitz habe ich zum Glück bisher nicht erleben müssen.

Was fandest Du besonders interessant?
Ich fand es spannend zu erfahren, dass er sich als Politiker tatsächlich einsetzt und sich für die Themen interessiert. Sehr interessant fand ich auch die Lehrerin, die davon berichtet hat, dass da, wo die Migranten wohnen, wenig in die Schulen investiert wird. Das war in der Schulzeit meiner beiden Kinder, die längst erwachsen sind, schon so. Da, wo die türkischen Gastarbeiter in den Sechzigern hingezogen sind, da wo heute die sogenannten Ghettobezirke sind, in Wedding oder Neukölln, wird bis heute wenig investiert. Dass das heute immer noch so ist, das find ich heftig.

Waren die Gewerkschaften, war die IG Metall Thema?
Steinmeier hat mich gefragt, wie ich Rassismus in Gewerkschaften empfinde. Ich habe ihm gesagt, dass wir im Osten andere Erfahrungen machen als im Westen, das gilt auch für Gewerkschaften. Wir hatten zum Beispiel vor einigen Tagen eine vom IG Metall Bezirk organisierte Betriebsrätekonferenz in Leipzig, da war ich die einzige Migrantin. Im Osten erlebe ich es auch privat anders als im Westen. Wir waren vor kurzem im Osten an der Grenze zu Polen im Urlaub. Mein Sohn trägt einen Bart, da wirst Du als Familie gleich anders angeguckt, so als wenn der jetzt ein Taliban wäre. Das erlebt man in Berlin nicht, Berlin ist Multikulti, das ist in Brandenburg ganz anders.

Konntet Ihr eigene Themen einbringen?
Auf dem Weg zu Kaffeetafel habe ich den Bundespräsidenten über die Situation bei uns in der Firma informiert. Politiker wissen häufig wenig darüber, wie viele Industriearbeitsplätze derzeit abgebaut werden, zum Beispiel auch bei uns.   

Ist es nicht komisch, über Integration zu sprechen, wenn man doch wie Du sein ganzes Leben in Berlin verbracht hat?
Steinmeier wollte wissen, was wir langjährig hier Lebenden wissen und was wir erfahren haben. Das ist ein langfristiges Projekt für ihn. Es gibt ja auch viele Türken, die hier schon lange leben und sich nicht integriert fühlen. Das gilt aber für mich nicht. Aber klar: Wenn ich sage, dass ich Ayse heiße, werde ich auch erstmal komisch angeguckt. Erst wenn ich geredet habe, dann ist das anders, dann merken die, dass ich auch nicht anders bin.

Hat Steinmeier spannende Sachen gesagt?
Er hat in seiner Rede gesagt, das er nicht nur für die Deutschen da ist. Sondern dass er als Bundespräsident für alle da ist. Er sagt, er betrachtet Menschen nicht nach der Hautfarbe. Das fand ich gut.  

Waren die Übergriffe von Nazis auch Thema, zum Beispiel hier in Berlin in der Hufeisensiedlung?
Ja, und wir haben vor allem darüber gesprochen, wie die Medien darüber berichten. Wenn ein Migrant ein Verbrechen begeht, dann ist das ein Riesen-Thema, dass die Deutschen bedroht. Wenn ein deutscher Familienvater seine Familie ermordet, dann ist das ein Familiendrama.

Wenige Tage nach dem Gespräch kam es zu den Vorfällen in Chemnitz. Was hast Du da gedacht? Musstest Du da an das Gespräch denken?
Ich habe sofort an das Gespräch beim Bundespräsidenten gedacht. Besonders hat mich erschrocken, dass es Menschen gibt, die Migranten auf der Straße jagen. Ich konnte in der Nacht kaum schlafen.

Viele sagen, sie trauen sich nicht mehr, alleine nach Chemnitz zu fahren. Würdest Du das machen?
Jetzt in der aufgeheizten Stimmung würde ich es vielleicht nicht machen. Ich weiß nicht, was mich da als schwarzhaarige Ayse erwarten würde. Aber wenn sich das wieder beruhigt hat, würde ich hinfahren und auch keine Angst haben.

Wie hat der Bundespräsident in kleiner Runde auf Dich gewirkt?
Sehr nett, sehr freundlich, wir saßen nebeneinander. Dadurch konnten wir auch mehr miteinander reden. E r ist ein sehr höflicher, sehr netter Mensch.

Soll das Gespräch fortgesetzt werden?
Ja, ich habe schon eine zweite Einladung bekommen, zum Bürgerfest im Schloss Bellevue, um mit anderen ins Gespräch zu kommen.

 

Von: jb

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