Transformationskonferenz am 2. September

„Wir lassen uns nicht auf Tarif- und Betriebspolitik verkürzen – wir sind die Gestalter der Transformation“

05.07.2021 | Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin, spricht im Interview über den Transformationskongress Anfang September und erläutert, warum die IG Metall sich jetzt ändern muss, um der Transformation begegnen zu können.

Jan Otto: "70 Prozent Organisationsgrad sind und bleiben die Eintrittskarte in die Schaltzentralen der Macht"

Jan, vor zwei Jahren standen wir mit mehr als 50.000 Menschen aus ganz Deutschland vor dem Brandenburger Tor und haben als IG Metall gemeinsam mit Umweltverbänden einen Fairwandel für die Transformation gefordert. Warum brauchen wir jetzt noch einen Transformationskongress in Berlin?

Wir als IG Metall können in dieser angespannten Lage nicht länger „nur“ die Erstreiter von Tarifverträgen oder Berater von Betriebsräten sein – wir müssen unser Mandat deutlich erweitern. Die Unternehmen haben deutlich gezeigt, dass sie kein offensichtliches Interesse an einer sozial-ökologischen, sondern einer rein ökologischen Transformation haben. Das bedeutet auch in 2021: Personalabbau, Verlagerung, statt innovativer Konzepte. Immer öfter sind wir dafür zuständig. Das machen wir auch gerne, nur geht das nicht ohne die Mehrheit der Belegschaft. Und die brauchen wir in der IG Metall. Wer, wenn nicht wir kann diese komplizierten Transformationsprozesse erfolgreich begleiten? Viel zu oft wird das von den Kolleginnen und Kollegen erst dann verstanden, wenn es zu spät ist – deshalb müssen wir JETZT glaubwürdig unser Mandat auch öffentlich erweitern. Das muss sicht- und spürbar sein. Ich will nicht in die Lage kommen, Belegschaften sagen zu müssen „Schön, dass ihr euch jetzt mehrheitlich organisiert habt, wo es fast zu spät ist – auch wir haben jetzt keine Ressourcen mehr für euch.“ – sondern ich will, dass wir in allen Betrieben Zukunftstarifverträge oder meinetwegen Zukunftspakte schließen, damit es für die Beschäftigten eine belastbare Perspektive gibt.

Daimler und Siemens Energy transformieren gerade ihre Berliner Werke, allerdings ohne uns. Sie haben angekündigt, weit mehr als tausend Berliner Industriearbeitsplätze streichen zu wollen. Was kann ein Transformationskongress mit Blick auf diese eindeutigen Realitäten bewirken?

Beim Daimler haben wir uns mit einer gut organisierten Belegschaft zum Teil der Transformation gemacht. Erste Errungenschaften sind die Kooperation mit Siemens, die so vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Auch bei Siemens sind wir in Teilen Treiber der Transformation – aber da eben auch noch nicht so gut aufgestellt, wie es sein müsste – da geht noch was. Die Beschäftigten müssen sich doch nur eine Frage stellen: Wie viele „Abbau“- oder „Verlagerungs“-Programme hält so ein Standort aus? Irgendwann ist nichts mehr zum Abbauen da – und da wollen wir rein. Perspektiven aufzeigen, Unternehmen zu Kooperationen bewegen, auch neue Produkte entwickeln und an innovativen Cases forschen und entwickeln. Um eins klarzustellen: Wir wissen, dass etwas nur erfolgreich sein kann, wenn es sich auch verkaufen lässt. Das haben wir auch nie in Frage gestellt. Aber die Transformation hat viele Spannungsfelder in denen es ohne IG Metall zu Explosionen kommen wird. Deshalb diskutieren wir auf der Konferenz mit Wissenschaft, Politik und auch mit uns selbst – denn auch wir müssen uns verändern.

Wo siehst Du die größten Herausforderungen für die Industrieunternehmen in Berlin?

Sie müssen erkennen, dass die Sozialpartnerschaft manchmal nicht ganz einfach ist: Einerseits müssen sie mit uns an einen Tisch, andererseits muss ihnen klar sein, dass wir sie mit unternehmerischem Unfug auch nicht einfach davonkommen lassen. Aber genau darum geht es ja: Wir müssen so „mächtig“ werden, dass sie keinen Unsinn mehr machen wollen. Die Unternehmen würden auch gut daran tun endlich eines zu verstehen: Wenn ich beweisen will, dass eine Transformation sozial-ökologisch stattfinden kann – woran übrigens die Mehrheit der Beschäftigten nicht glaubt – dann geht das nur in Berlin. Wir haben hier einen Lichtstrahl auf Berlin (ob wir wollen oder nicht), den es so woanders nicht gibt. Das ist in meinen Augen allerdings eine Riesenchance.

Wo hat die Berliner Industrie Deiner Meinung nach die größten Potenziale?

Wir bekommen hier Fachkräfte und Spezialisten, die sonst nirgendwo in Deutschland arbeiten wollen. Wir haben eine super Infrastruktur. Und wir haben in Berlin noch viel Nachholbedarf im Rahmen der Wertschöpfungsketten. Diese müssen vom Grunde auf gedacht werden und bieten enorme Potenziale auch im Beschäftigungsaufbau. Und dann geht es noch darum, Kooperationen einzugehen an Stellen, an denen die Unternehmen keine Konkurrenz haben, zum Beispiel bei der Nachhaltigkeit. Kooperationen darüber hinaus sind allerdings auch denkbar. Es gibt nichts, was wir in Berlin nicht machen können. Berlin muss Industriestadt bleiben.

Wie kann der zukünftige Berliner Senat tun, damit Berlin sich in diese Richtung entwickeln kann?

Der Senat kann einen Rahmen anbieten, er kann Flanken festlegen, über die es nicht hinausgeht und er kann mit uns gemeinsam die Unternehmen an einen Tisch holen – was wir auch schon getan haben und fortsetzen werden. Und er kann sich klar dazu bekennen, dass Industrie in Berlin gewollt und sichtbar ist.

Die Unternehmensspitzen sehen sich in dieser globalisierten Welt vor vielen Herausforderungen, zum Beispiel Geld zu verdienen und ihre Prozesse dem Klimawandel anzupassen. Für sie sind Personalbelange oder Gewerkschaften nicht die Top-Themen. Wo verortest Du da uns als IG Metall Berlin, welche Rolle willst Du mit der IG Metall da in der Transformation zukünftig einnehmen?

Die Einschätzung teilen wir – und genau da setzen wir an: Wir als IG Metall wollen die treibende Kraft der Transformation sein mit einer aktivierenden Industriepolitik. Ökologisch ja. Sozial gerecht unbedingt. Ökonomisch – auch ok, aber: Die Gewinne der vergangenen Jahre müssen jetzt auch eingesetzt werden, um Zukunft zu bauen. Genau hier stehen wir bereit: Wir gestalten inhaltlich, achten darauf, dass die Prozesse richtig laufen und greifen sofort ein, wenn es nur auf dem Rücken der Beschäftigten geschieht. Wir müssen uns in Zukunft nicht mehr als „Betriebsbetreuer“ verstehen, sondern als Prozessbegleiter. Niemand kann das so gut wie wir.

Das hört sich nach einem hohen Anspruch an. Den kann man aber nur umsetzen, wenn man auch was in die Waagschale werfen kann. Was haben wir auf der Haben-Seite?

Wir haben die absolute Expertise, wenn es um Fragen der Mitbestimmung, Tarifpolitik und Arbeitnehmerinnen- und Angestelltenrechte geht. Und wir haben ein Netzwerk, welches seinesgleichen sucht: Nur wir können über einen komplexen Prozess der Transformation eine Klammer bilden, die alle drei angesprochenen Dinge im Blick hat. Und wenn alle Stricke reißen: Auch in 2021 sind wir als IG Metall die einzigen, die den Grundsatz „Arbeit gegen Geld“ im Rahmen eines Streiks aufheben können für unsere Mitglieder, ohne, dass jeder gleich seinen Job verliert. Das Machtpotential der Gewerkschaften wurde viel zu lange unterschätzt – und wir haben viel zu lange Prozesse begleitet, ohne genau das auch herauszustellen.

Wie müssen wir uns selbst verändern, was können wir als IG Metall Berlin tun, um in fünf Jahren besser dazustehen?

Ich sage das so oft, bis ich es nicht mehr sagen muss: Wir müssen die Mitgliederfrage ganz nach vorne stellen. Ich bin nicht mehr bereit für Betriebe zu kämpfen oder Prozesse zu organisieren, in denen nicht mal die Hälfte der Belegschaft uns dafür ein Mandat gibt. Dafür müssen wir aber auch klarer werden in unserem Anspruch und unsere Arbeit richtig darstellen. Wir lassen uns nicht auf Tarif- und Betriebspolitik verkürzen. Wir sind die Gestalter der Transformation. Dafür müssen wir auch unsere Betriebs- und Vertrauensleute besser qualifizieren, denn auch sie haben mittlerweile einen deutlich anspruchsvolleren Job als noch vor 20-30 Jahren. 70 Prozent Organisationsgrad sind und bleiben die Eintrittskarte in die Schaltzentralen der Macht. Wenn wir Prozesse begleiten, dann begleiten wir sie auf Augenhöhe.

Kommt zum Transformationskongress der IG Metall Berlin
Die Spitzenkandidat*innen der Berliner Parteien, der Regierende Bürgermeister Michael Müller, der Vorsitzende der IG Metall Jörg Hofmann sowie zahlreiche prominente Vertreter*innen aus Wissenschaft und Wirtschaft diskutieren am 2. September mit der IG Metall Berlin die  Transformation. Eure Anmeldung sendet Ihr an Anke.Paul@igmetall.
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Von: Jörn Breiholz

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