Betriebsräte/Vertrauensleute

Betriebsrätefachtagung

Digitale Betriebsratsarbeit und die Zukunft der Berliner Industrie auf dem Prüfstand

29.06.2022 | Digitalisierung, Transformation und ein Blick auf die Industriemetropole Berlin: Sieben Stunden haben sich 125 Betriebsrätinnen und Betriebsräte aus Unternehmen der Hauptstadt am 28. Juni zu aktuellen Herausforderungen ihrer Arbeit intensiv ausgetauscht. Sie haben mit der Bundes- und Berliner Landespolitik diskutiert, einen fundierten Überblick über die aktuelle Rechtslage zur digitalen Betriebsratsarbeit bekommen und in vier Fachforen konkrete Beispiele ihrer betrieblichen Arbeit erörtert – in Präsenz.

Mitbestimmung in digitalen Zeiten und Austausch mit der Politik waren die Themen der Betriebsrätefachtagung, zu der die IG Metall Berlin eingeladen hatte. Fotos: Christian von Polentz/transitfoto.de

Lilian Tschan, Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, informierte über Koalitionsvorhaben und -initiativen.

Eine Podiumsdiskussion rundete die Veranstaltung am Nachmittag ab: Regina Katerndahl, Zweite Bevollmächtigte, Michael Biel, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe, Jan Otto, Erster Bevollmächtigter, und Nils Kummert, Fachanwalt für Arbeitsrecht (v.l.).

Am Rande der Tagung unterschrieben die Teilnehmenden eine Solidaritätserklärung mit den Ford-Beschäftigten in Saarlouis, die um ihren Standort kampfen.

Thomas Kusche, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Häfele – Teilnehmer an Forum 1

Sarah Hohmann, Jugend- und Auszubildendenvertreterin bei Hach Lange – Teilnehmerin an Forum 2

Kai Greger, Betriebsrat bei Osram – Teilnehmer an Forum 3

Birgit Bergmann, Betriebsrätin bei Mercedes-Benz – Teilnehmerin an Forum 4

„Transformation und Digitalisierung sind nicht bloß ein technologischer Wandel“, begrüßte Regina Katerndahl, Zweite Bevollmächtigte der IG Metall Berlin, die Kolleginnen und Kollegen. „Unser Anspruch ist es, den Umbau der Industrie ökologisch und demokratisch zu gestalten und mit sozialem Fortschritt zu verbinden. Gelebte Mitbestimmung braucht zwingend das Gespräch, den direkten Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort im Betrieb, die Mimik und Gestik und das Herz für unsere politische Auseinandersetzung."

Mitbestimmung hat Mehrwert
Insbesondere durch die Pandemie mit ihren langen Kontaktbeschränkungen hat sich die Betriebsratsarbeit in den zurückliegenden zwei Jahren sehr verändert. Digitale Formate haben die Arbeit in den Gremien aufrechterhalten, Betriebsvereinbarungen per elektronischer Signatur und Betriebsversammlungen via Videokonferenz ermöglicht. „Die Regierung hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass betriebliche Mitbestimmung auch während der Pandemie möglich war“, erinnerte Lilian Tschan, Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Aus gutem Grund, wie sie erklärte, denn „betriebliche Mitbestimmung hat einen echten Mehrwert für die Beschäftigten und Unternehmen. Ob bei Hygiene- und Gesundheitsmaßnahmen, Regelungen zur Kurzarbeit oder beim Wechsel ins Homeoffice – Betriebe mit Betriebsrat sind besser durch die Pandemie gekommen.“

Mitbestimmung, so Lilian Tschan, „gehört zur DNA unserer sozialen Marktwirtschaft“. Sie müsse auch wegen des Strukturwandels in den Unternehmen auf der Höhe der Zeit sein, damit Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter bei drängenden Themen der Transformation wie Einführung Künstlicher Intelligenz, Weiterbildung und Fachkräftesicherung ihre Expertise miteinbringen könnten.
Koalitionsvorhaben

Die Staatssekretärin berichtete den Kolleginnen und Kollegen außerdem über weitere Vorhaben und Initiativen, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben sind: die Erprobung von Online-Betriebsratswahlen etwa oder Bildungszeit/Bildungsteilzeit nach Vorbild Österreichs, um Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, sich beruflich neu zu orientieren oder sich für die Anforderungen der Transformation in ihrem Betrieb zu qualifizieren.

„Diese Themen brennen uns unter den Nägeln!“
Die Betriebsrätinnen und Betriebsräte gaben der Staatssekretärin weitere Themen mit auf den Weg, die ihnen unter den Nägeln brennen: die Stärkung der Rechte von Betriebsräten bei wirtschaftlichen Angelegenheiten; Rahmenbedingungen, die Werkverträge stärker einschränken; Verbesserungen für Zeitarbeitskräfte und ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse etwa beim Kurzarbeitergeld oder die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Transformation. Außerdem positionierten sie sich eindeutig gegen die von Bundeskanzler Olaf Scholz ins Spiel gebrachte „konzertierte Aktion“ – eine steuerfreie Einmalzahlung der Arbeitgeber für eine Lohnforderungszurückhaltung in Tarifrunden. „Wir sind keine Fans von Einmalzahlungen“, erklärte Regina Katerndahl, „die Kolleginnen und Kollegen brauchen vor dem Hintergrund der hohen Inflation dauerhafte Entlastung durch steigende Entgelte und zusätzliche Entlastungen durch den Staat.“   

Präsenz, online, hybrid? Betriebsratsarbeit und die aktuellen Gesetze
Nils Kummert, Fachanwalt für Arbeitsrecht, brachte die Teilnehmenden mit den wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen zur betrieblichen Öffentlichkeitsarbeit, zur Betriebsratsarbeit und zu Betriebsversammlungen auf den aktuellen Stand. So sieht das Gesetz eine Durchführung von „hybriden oder vollvirtuellen Betriebsversammlungen“, wie die Pandemie-Sonderregelung sie übergangsweise gestattete, derzeit nicht mehr vor.
Ob Betriebsratssitzungen und Betriebsversammlungen künftig wieder ausschließlich traditionell oder wie in der Coronazeit üblich online oder hybrid durchgeführt werden sollen, wurde dabei durchaus kontrovers diskutiert. Zwar waren sich die Anwesenden einig, dass Gremienarbeit und Betriebsversammlungen von Präsenz leben, sie berichteten aber auch von Wünschen aus der Belegschaft, weiter digitale Formate anzubieten.

Ausblick und Fazit digitaler Betriebsratsarbeit
Bei der betrieblichen Öffentlichkeitsarbeit von Betriebsrat und Gewerkschaften, so Kummerts Ausblick, „muss und wird eine kleine Revolution passieren. Wir sind sogar schon mittendrin, weil die traditionellen Formen der Ansprache nicht mehr funktionieren.“ Sein Fazit zu Betriebsversammlungen und Betriebsratssitzungen fällt dagegen anders aus: „Politische Willensbildung braucht auch und gerade und immer noch so viel wie möglich an direkter Kommunikation. Bei Videokonferenzen gehen 70 Prozent an Informationen und wichtigen Zwischentönen verloren.“

Aus der Praxis für die Praxis
Nach der Mittagspause teilten sich die Betriebsrätinnen und Betriebsräte in vier Fachforen auf. Dort erhielten sie von Kolleginnen und Kollegen Praxisbeispiele zu den Möglichkeiten guter Kommunikation in digitalen Zeiten oder zu neuen Formen der Betriebsratsarbeit, diskutierten, wie moderne und jugendorientierte Gewerkschaftsarbeit und -ansprache gelingt oder bekamen Einsicht in das Thema Ausstieg aus dem Erwerbsleben vor der Regelaltersgrenze und finanzielle Einbußen. Mehr Informationen zu den Foren gibt es unten auf der Seite.

Berlin hat Potenzial für viel mehr Industrie
Eine Podiumsdiskussion rundete die diesjährige Betriebsrätefachtagung am Nachmittag ab. Neben Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin, und Rechtsanwalt Nils Kummert sorgte Michael Biel, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe, dafür, Politik für die Kolleginnen und Kollegen greifbar zu machen. Er berichtete, welche Strategien der Berliner Senat verfolgt, um die Digitalisierung und Transformation der Berliner Unternehmen zu unterstützen. Er nannte dabei zum Beispiel die Digitalagentur oder die Digitalprämie, die Unternehmen bei der Umrüstung finanziell und beratend unterstützt. Außerdem, so berichtete Biel, erforscht der Senat derzeit den Digitalisierungsstand aller Berliner Unternehmen. „Ziel ist es, deutlich mehr Industriearbeitsplätze in Berlin zu schaffen“, sagte Biel. „Wir haben das Potenzial, das Klima und die Köpfe dafür, Berlin industriell neu aufzustellen.“

Worte, die Jan Otto gerne hört. „Ich bin froh, dass es in Berlin wieder einen solchen Blick auf die Industrie gibt“, so der Erste Bevollmächtigte, der auch darauf hinwies, dass die Stadt noch über einige Freiflächen verfüge, auf denen sich Industrie ansiedeln ließe. Viele wollen nach Berlin, „auch für Fachkräfte hat die Stadt ein hohes Bindepotenzial“, benannte Otto ein weiteres wichtiges Argument für die Neuansiedlung von Industrien.
 

Geballtes Wissen für mehr Mitbestimmung – die vier Fachforen
Forum 1: Der digitale Betriebsrat – gut kommunizieren in digitalen Zeiten
Ümit Tüfekci und seine Betriebsratskolleginnen und -kollegen bei Siemens Energy Global gehen in Sachen Kommunikation mit der Belegschaft neue Wege. Sie nutzen das digitale Tool „Yammer“, um die Belegschaft auf dem Laufenden zu halten – über Betriebsvereinbarungen oder das BVG-Firmenticket. Sie haben darüber auch zur Teilnahme an der Betriebsratswahl aufgerufen und Ümit Tüfekci ist sich sicher, dass „die Wahlbeteiligung ohne diesen Kanal deutlich schlechter gewesen wäre“. Von 2400 Beschäftigten nutzen fast 2000 Kolleginnen und Kollegen Yammer. Der Arbeitgeber nutzt die Plattform ebenfalls, das hat Datenschutzprobleme von vornherein aus dem Weg geräumt.
Intensiv haben die Kolleginnen und Kollegen diskutiert, ob und für wen diese Form der digitalen Kommunikation in Betracht kommt. „Spannend zu hören, welche neuen Wege Betriebsräte von großen Belegschaften gehen, um Kolleginnen und Kollegen unabhängig von deren Arbeitsort – Büro, Homeoffice oder in der Produktion – zu informieren“, sagte Thomas Kusche, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Häfele. „Für unseren kleinen Betrieb mit einer eher älteren Belegschaft in der Produktion ist aber der direkte Kontakt und das persönliche Gespräch durch nichts zu ersetzen.“

Forum 2: Junge IG Metall - mit uns geht was!
Jakob Heidenreich, Jugendsekretär der IG Metall Berlin, nahm die Kolleginnen und Kollegen mit auf eine Reise in die Welt der Jugend. Auf Basis der jüngsten Shell-Jugendstudie und mit den Erfahrungen aus den Betrieben überlegten die Teilnehmenden, wie sie Auszubildende, dual Studierende und junge Beschäftigte für die Gewerkschaftsarbeit gewinnen können. In der Abschlussrunde gab es viel Lob für das lebhafte und „bunte“ Forum.  „Für mich war das sehr interessant, dass sich die Erkenntnisse aus der neuen Shell-Jugendstudie mit meinen Wünschen und Erwartungen decken: Eine gute Balance von Arbeit und Freizeit ist für uns junge Leute am wichtigsten, dicht gefolgt von einer guten Arbeitsatmosphäre. Beides rangiert deutlich vor einem hohen Einkommen“, berichtete Sarah Hohmann, Jugend- und Auszubildendenvertreterin bei Hach Lange. „Es ist gut zu wissen, wie Jugendliche ticken. So können wir unsere Auszubildenden über Themen abholen und sie vielleicht für die Mitarbeit mobilisieren.“

Forum 3: Neue Formen der Betriebsratsarbeit
Mehr Beteiligung der Belegschaft, projektorientierteres und themenbezogeneres Arbeiten: Predrag Savic, Betriebsratsvorsitzender im Siemens Dynamowerk, und Christian Scholz, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender im Siemens Schaltwerk, haben die Betriebsratsarbeit ihrer Gremien auf neue Beine gestellt. „Wir diskutieren nicht über die Köpfe der Belegschaft hinweg, sondern holen sie mit ins Boot und sorgen so für eine kulturelle Veränderung“, berichtete Predrag Savic. „Ganz wichtig dabei ist, loszulassen, auf die Kompetenzen der Kolleginnen und Kollegen zu vertrauen und sie machen zu lassen.“ So verteilt sich die Arbeit nicht nur auf mehrere Schultern, die Belegschaft ist auch anders eingebunden in Entscheidungen.
Kai Greger, Betriebsrat bei Osram, fand die Diskussion anregend. „Das war schon Betriebsratsarbeit für Fortgeschrittene. Als frisch gewählter Betriebsrat muss ich jetzt eigentlich erst mal die ,normale‘ Betriebsratsarbeit kennenlernen. Das Tool nehme ich aber gerne als Idee mit.“

Forum 4: Vor der Regelaltersgrenze aufhören zu arbeiten – finanzielle Einbußen kennen und minimieren
Stark frequentiert war Forum 4, in dem es um die Rente ging. Werner Buber von Clever in Rente gab wichtige Einblicke in eine komplexe Thematik. Vorzeitige Ausstiege aus dem Erwerbsleben können zu Renten führen, die deutlich unter der Regelaltersgrenze liegen. Wichtig auch zu wissen, dass nicht jeder Monat des vorzeitigen Ausstiegs zu gleich hohen Einbußen führt. Das Forum vermittelte Kenntnisse, die dabei helfen können, unnötige Verluste bei Personalabbaumaßnahmen oder persönlichen Ausstiegsplänen zu vermeiden. „Das war mal ein ganz anderer Blickwinkel auf die Thematik“, sagte Birgit Bergmann, Betriebsrätin bei Mercedes-Benz. „Ich habe bislang immer eher den Einzelnen betrachtet, wenn es um die Rente ging. Dieser Ansatz hat bei drohendem Stellenabbau einen Blick auf die Gesamtbelegschaft und die Verhandlungen um einen Sozialplan geworfen.“

Berichterstattung:
rbb, Abendschau, 28. Juni 2022

Von: kk

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