06.11.2020 | Eine Milliarde Überstunden leisten Beschäftigte in Deutschland für lau, weil sie nicht erfasst wurden. Im Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof dazu entschieden. Was das Urteil bedeutet, und earum Betriebsräte aktiv werden sollten, wenn ein Zeiterfassgungssystem nicht existiert, erläutert Rechtsanwalt Nils Kummert von der Kanzlei dka Rechtsanwälte Fachanwälte.
Am 14.05.2019 hat – lange vor der Corona-Pandemie – der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Arbeitgeber eine objektive, verlässliche und zugängliche Möglichkeit der Erfassung der täglichen Arbeitszeit anbieten müssen, da nur so die Beschäftigten ihre real geleisteten Arbeitszeiten nachweisen können und die Arbeitgeber ihrerseits in der Lage sind, die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten, Pausen- und Ruhezeiten zu überwachen und einzuschreiten, wenn Beschäftigte (und vor allem Vorgesetzte durch ihre Anweisungen oder die stillschweigende Entgegennahme dieser Arbeit ohne Eingriff) diese Zeiten missachten.
Es war höchste Zeit: Eine Milliarde (!) Überstunden werden jährlich in diesem Land geleistet, ohne dass diese vergütet werden. Es steht zu vermuten, dass diese Stunden nirgendwo erfasst werden. Die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes und der dahinter stehenden sehr wichtigen Richtlinie der EU werden in sehr vielen Betrieben im besten Falle als „unverbindliche Richtschnur“ gesehen.
Aber was bedeutet diese EuGH-Entscheidung jetzt für die Praxis in den Betrieben? Kann der Beschäftigte (oder besser: der Betriebsrat) verlangen, dass der Arbeitgeber eine elektronische Zeiterfassung einführt? Kann der Arbeitgeber Beschäftigte auffordern, selbst in einem Excel-Tool oder händisch auf einem Zettel die Zeiten zu notieren? Ist die „Vertrauensarbeitszeit“ (was immer das genau ist) – wie oft zu hören ist – jetzt wirklich „tot“? Was ist mit der Pflicht zur Zeiterfassung bei der mobilen Arbeit oder der Arbeit im Home Office?
Ausgangslage
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kommt wiederholt in ihren Beschäftigtenbefragungen zu dem Ergebnis, dass Beschäftigte seit Jahren und in Größenordnungen länger arbeiten, als das Arbeitszeitgesetz und auch Art. 6 der einschlägigen EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG es zulassen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung stellt auch für das Jahr 2019 zum wiederholten Mal fest, dass ca. 244 Mio. unbezahlte Überstunden im ersten Quartal geleistet wurden. Das entspricht – und dieses Niveau ist im Wesentlichen über die letzten Jahre hinweg gleich bleibend – ca. einer Milliarde unbezahlter Überstunden im Jahr. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei diesen Arbeitsstunden weit überwiegend um nicht von einem Erfassungssystem dokumentierte Arbeitszeiten handelt, denn 50,2 % der Beschäftigten unterliegen keiner Arbeitszeiterfassung, während von etwa 33,3 % der Beschäftigten die gesamte Arbeitszeit erfasst wird.
Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 (C-55/19 – CCOO)
In diese Situation hinein platzte im Frühjahr 2019 mehr oder weniger unerwartet die grundlegende und viel diskutierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14.05.2019 (C-55/19 – CCOO). Vielfach wurde sie als „Stechuhrentscheidung“ verunglimpft, die uns ins letzte Jahrhundert zurückbefördert.
Der Europäische Gerichtshof hat ausgeurteilt, dass die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet seien, Arbeitgeber wiederum zu verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die von einem jeden Beschäftigten geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Begründet wurde dies damit, dass ansonsten der Arbeitszeitschutz nicht effektiv gewährleistet werden könne, wenn es nicht dem einzelnen Beschäftigten ermöglicht würde, einen entsprechenden Nachweis in Bezug auf die Einhaltung oder Überschreitung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften führen zu können.
Der Europäische Gerichtshof verweist zur Begründung auf mehrere Vorschriften der Arbeitszeitrichtlinie (Art. 3, 5 und 6 Buchst. b)), die im Lichte von Art. 31 Abs. 2 der GRC interpretiert werden müssten sowie auf die Regelungen der Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie 89/391/EWG.
Auch und gerade bei mobiler Arbeit und Arbeit im Home Office und anderer Tätigkeit außerhalb der Betriebsstätte gelten diese Grundsätze. Der Gesetzgeber ist berechtigt hier Sonderlösungen einzuführen, was derzeit geprüft wird. Grundsätzlich gilt aber auch hier, dass ein möglichst verlässliches und objektives Zeiterfassungssystem (z. B. über eine App) eingeführt wird.
Muss der Arbeitgeber ein elektronisches Zeiterfassungssystem einführen, wenn dieses noch nicht existiert?
Es ist sehr umstritten, ob aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes gefolgert werden kann, dass künftig ein Arbeitgeber verpflichtet ist, ein elektronisches Zeiterfassungs-System einzuführen und händische Erfassungsmodelle („Stift und Zettel“) unzulässig sind. In sehr vielen Betrieben – vor allem in größeren Betrieben – existiert seit Jahren eine solche elektronische Zeiterfassung, gelegentlich sind jedoch bestimmte Angestelltengruppen (zumeist „Führungskräfte“) ausgenommen.
Für eine Pflicht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems spricht entscheidend, dass nach dem Sinn und Zweck der Richtlinie der Arbeitgeber und auch der Beschäftigte selbst jederzeit unmittelbar erkennen können muss, ob die Regelungen zur Ruhezeit und Höchstarbeitszeit eingehalten werden oder nicht. Es muss dem Arbeitgeber möglich sein, sofort einzugreifen, wenn diese Regelungen verletzt werden. Es kommt hinzu, dass nach dieser Lesart händische Aufzeichnungen weder „objektiv“ noch „verlässlich“ sind. „Objektiv“ und „verlässlich“ sind nach dieser gut begründeten Auffassung nur solche Systeme, die so weit wie möglich manipulationsfrei sind, als Beweismittel für Arbeitnehmer und Behörde tauglich und unmittelbar die Arbeitszeit zu erfassen in der Lage sind.
Gilt die Entscheidung des EuGH jetzt schon oder muss das Arbeitszeitgesetz erst geändert werden?
Nach weit verbreiteter und nach unsrer Meinung auch richtiger (jedoch umstrittener) Auffassung ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von der Rechtsprechung, den Arbeitgebern und nicht zuletzt auch von den Einigungsstellen bereits jetzt schon (vor einer möglichen Änderung des Arbeitszeitgesetzes) zwingend zu beachten. Dies folgt daraus, dass die Pflicht zur Einführung eines entsprechenden Arbeitszeiterfassungs-Systems direkt aus Art. 31 Abs. 2 der EU-GRC abgeleitet wird.
Jetzt schon: Auswirkungen auf einen Überstunden-Prozess
Auf dieser Linie liegt auch eine recht junge Entscheidung des Arbeitsgerichtes Emden vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19. Das Arbeitsgericht Emden geht von einer schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt wirksamen unmittelbaren Drittwirkung der vom Europäischen Gerichtshof festgestellten Arbeitszeiterfassungspflicht aus und schlussfolgert für einen Überstundenprozess, dass Darlegungspflichten des Arbeitgebers nicht unmaßgeblich von dieser Pflicht beeinflusst seien. Das ist in der Tat ein sehr wesentlicher Aspekt, zumal der Europäische Gerichtshof festgestellt hat, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, ein zugängliches Erfassungssystem bereitzustellen. Zugänglichkeit bedeutet, dass die Arbeitnehmer diese Information auch gegen den Willen des Arbeitgebers so abrufen können, dass die Daten für einen etwaigen Rechtsstreit zur Verfügung stehen.
Hat die „Vertrauensarbeitszeit“ noch eine Zukunft?
In welcher Ausgestaltung Vertrauensarbeitszeit-Systeme auch zukünftig noch durchführbar sein werden, hängt entscheidend davon ab, wie diese ausgestaltet sind. Es wird auch weiterhin möglich sein, dass der Arbeitgeber den Beschäftigten keinerlei konkrete Vorgaben zur Lage der Arbeitszeit (Beginn und Ende) macht und den Mitarbeitern jeweils vorhält, sie hätten ihr Arbeitszeitvolumen, das sie schulden, unterschritten. Modelle sind jedoch unzulässig, die darauf beruhen, dass (unabhängig von der Überschreitung der Acht-Stunden-Grenze nach § 16 Abs. 2 ArbZG) keinerlei Arbeitszeiten systematisch erfasst werden.
Aber: Dieses Modell entspricht einem qualifizierten Gleitzeitmodell, auf dessen Basis ein Zeitausgleich (in der Regel verbunden mit einem Ampel-Arbeitszeitkonto) erfolgt und unbezahlte Mehrarbeit und überlange gefährliche Arbeitszeiten effektiv vermieden werden können. Ein solches System ist einem Vertrauensarbeitszeitmodell vorzuziehen.
Soweit mit Blick auf die Einhaltung des § 16 Abs. 2 ArbZG in einem Vertrauensarbeitszeit-System die Beschäftigten angewiesen wurden, Arbeitszeitnachweise selbst zu führen (und mehr oder weniger oft oder selten eine Kontrolle dieser erfassten Arbeitszeiten auf ihre Richtigkeit hin von Seiten des Arbeitgebers erfolgte), wird dies nicht mehr möglich sein. Nach einer Auffassung ist die Selbsterfassung der Arbeitszeit durch die Beschäftigten nicht „objektiv“ und nicht „verlässlich“ und damit generell unzulässig oder aber es bedarf – soweit mit der überwiegenden Auffassung in der Literatur die Selbstaufzeichnung für zulässig erachtet wird – zumindest systematischer (stichprobenartiger) Kontrollen der von den Beschäftigten selbst erfassten Arbeitszeiten durch den Arbeitgeber.
Kann der Beschäftigte die Einführung eines den Anforderungen des EuGH entsprechenden Arbeitszeiterfassungssystems beanspruchen?
Grundsätzlich kann der Beschäftigte gem. § 618 BGB in Verbindung mit den Grundsätzen der Entscheidung der EuGH die Einführung eines solchen Systems durchsetzen. Da hier aber vieles noch umstritten ist, ist es ratsam, den Betriebsrat hier initiativ werden zu lassen. Gibt es einen solchen nicht, ist rechtliche Beratung erforderlich. Oder besser: Ein Betriebsrat sollte gewählt werden.
Die Betriebsratsrechte: Durchsetzung eines betrieblichen (elektronischen) Arbeitszeiterfassungssystems möglich?
Der Betriebsrat könnte daran denken, per Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein elektronisches Zeiterfassungssystem (ggf. auch eine App) durchsetzen zu wollen. Das Bundesarbeitsgericht hat allerdings in einer schon älteren Entscheidung aus dem Jahr 1989 dem Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG nur eine „Abwehrfunktion“ zugesprochen und daher ein Initiativrecht des Betriebsrats bezüglich der Einführung technischer Einrichtungen verneint.
Es spricht sehr viel dafür, dass die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vor dem Hintergrund der vom EuGH aus den einschlägigen Richtlinien und Art 31 Abs. 2 EU-ERC abgeleiteten Pflicht zur Bereitstellung eines Arbeitszeiterfassungssystems jedenfalls mit Blick auf entsprechende technische Einrichtungen zur Erfassung der Arbeitszeit nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Da das „Ob“ der Arbeitszeiterfassung verbindlich vorgegeben ist und nur das „Wie“ der Arbeitszeiterfassung zu regeln ist, geht es immer um Ausgestaltungsfragen der Zeiterfassung.
Der Betriebsrat kann aber auch über ein Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG aktiv werden. Er muss die Arbeitszeiten messen und erfassen und er muss diese auch dokumentieren, um sie dem betroffenen Beschäftigten zugänglich zu machen. Bei der Frage der Festlegung der konkreten Zeiterfassungs-Maßnahmen auf Basis der feststehenden aus den Richtlinien (im Lichte des Art. 31 Abs. 2 EU-GRC) fließenden Handlungspflicht greift das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ein, da hier ein Handlungsbefehl aus den Richtlinien als Rahmenvorschrift im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG folgt. Das ist nicht unumstritten und noch gibt es keine Präzedenzfälle, aber unseres Erachtens handelt es sich hierbei um einen belastbaren Ansatz.
Anzeige bei der zuständigen Aufsichtsbehörde bei Verstößen gegen das das Arbeitszeitgesetz und die Arbeitszeiterfassungspflicht?
Es stellt sich die Frage, ob Betriebsräte oder auch einzelne Beschäftigte sich an die zuständigen Aufsichtsbehörden wenden dürfen, wenn sie Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz – und auch einen Verstoß gegen die Erfassungspflicht – feststellen. Gem. § 89 BetrVG ist eine Meldung jedenfalls dann zulässig, wenn der Betriebsrat bzw. ein Beschäftigter vorher versucht hat, innerbetrieblich auf Abhilfe hinzuwirken. Das ist jedoch zwingend notwendig und auch rechtlicher Rat sollte unbedingt eingeholt werden. Das Bundesarbeitsgericht tendiert jedoch deutlich dazu, eine vorherige innerbetriebliche Klärung zu verlangen. Der Betriebsrat oder der (betroffene) Beschäftigte sollte daher zunächst innerbetrieblich auf Abhilfe drängen (und dies dokumentieren), wenn er keine Sanktionen riskieren will.
Der Betriebsrat muss berücksichtigen, dass das Bundesarbeitsgericht eine Übersendung von Daten, die konkreten Beschäftigten zuzuordnen sind, mit Blick auf datenschutzrechtliche Vorgaben nicht generell und einzelfallunabhängig für zulässig erachtet. Daher muss der Betriebsrat sorgfältig prüfen, ob die Übersendung anonymisierter Daten genügt, was im Regelfall so sein wird.
Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Installation eines Zeiterfassungssystems ist derzeit nach richtiger Auffassung auch anzeigefähig, weil der Arbeitgeber nach richtiger Auffassung die unionsrechtliche Verpflichtung auch jetzt schon zwingend zu beachten hat. Das mag die Behörde aber wegen des noch nicht entschiedenen Streits anders sehen. Die Verhängung eines Bußgeldes wird allerdings noch nicht möglich sein, weil das Arbeitszeitgesetz noch nicht auf die vom Europäischen Gerichtshof festgestellte Rechtslage „ausgerichtet“ ist.
Fazit
Betriebsräte sollten aktiv werden, wenn ein (elektronisches) Zeiterfassungssystem nicht existiert. Dort, wo Vertrauensarbeitszeitmodelle weiterhin praktiziert werden, gehören diese auf den Prüfstand. In der Regel können diese in der traditionellen Weise nicht mehr durchgeführt werden. Betroffene Beschäftigte sollten sich beraten lassen, ob und wie sie sich rechtlich wehren können gegen eine Verletzung der Aufzeichnungspflicht, die ja sehr oft mit der Durchführung unbezahlter Mehrarbeit einhergeht. Die Beweislast in einem Überstundenprozess hat sich verlagert bzw. für den Beschäftigten deutlich vermindert und der Arbeitgeber muss die Aufzeichnungen vorlegen. Die Nachteile hat er zu tragen, wenn er diese Aufzeichnungen nicht vorlegen kann.