Rechtstipp

Dienstreisen und Arbeitszeit

09.04.2019 | In den 1960er Jahren hatten Dienstreisen – fliegen, Städte kennenlernen – noch angenehme Seiten. Jedenfalls urteilten die Bundesarbeitsgerichte entsprechend. Der Arbeitgeber musste dafür nicht die volle Vergütung zahlen. Das hat sich inzwischen geändert. Was das für Beschäftigte heißt, weiß Nils Kummert von der Kanzlei dka Rechtsanwälte Fachanwälte.

Viele Jahre war es klar: Wenn Arbeitgeber Beschäftigte auf Dienstreise schickten, musste er nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Reisezeit – zumindest die Reisezeit außerhalb der regulären Arbeitszeit – nicht bzw. nur teilweise vergüten. Jedenfalls musste der Arbeitgeber nicht die volle Vergütung zahlen wie für die reguläre Arbeit. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts – zuletzt wurde diese Rechtsprechung explizit noch im Jahr 2006 bestätigt – hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass Reisen auch seine angenehmen Seiten habe und Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen deswegen nicht die volle Vergütung erwarten dürften.

Die Höhe der zu erwartenden Vergütung richtete sich nach der Höhe des Einkommens und dem Berufsbild des Beschäftigten, der typischen Erwartungshaltung des Beschäftigten und vor allem der des Arbeitgebers und der allgemeinen Verkehrsanschauung.  Vergütungsrechtlich stand damit die Dienstreisezeit irgendwo zwischen „Zwangsurlaub“ und „Freizeitopfer“. Dieses alte Bild von der „Dienstreise als Incentive“, als „Quasi-Belohnung“ hat sich in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung und der damit verbundenen vermehrten sowie erzwungenen Reiseaktivitäten der Beschäftigten, aber auch infolge der konsequenten Arbeitszeitrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nunmehr gewandelt und musste sich wandeln: Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat jetzt in einer viel beachteten Entscheidung vom 17.10.2018  den Rechtssatz aufgestellt, dass Reisezeit wie Arbeitszeit zu 100% zu vergüten ist. (Az. 5 AZR 553/17)

Gilt das aber nur für die Vergütung oder auch für die Höchstarbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz? Gilt es ausnahmslos? Und dürfen Betriebsparteien davon abweichen?

Dienstreise – Ein typisches Beispiel
Es soll mit einem Beispiel für eine typische Dienstreise begonnen werden: Ein Beschäftigter fährt mit dem Taxi morgens früh um 5.00 Uhr zum Bahnhof, steigt um 5.30 Uhr in den Zug und kommt am Zielort (Dienstreiseort) um 11.00 Uhr an. Mit dem Taxi geht die Reise weiter zum Büro des Gastgebers, bei dem dann um 11.30 Uhr das Meeting beginnt. Es endet gegen 16.00 Uhr. Der Beschäftigte steigt in das Taxi, erwischt den Zug zum Heimatort und erreicht diesen gegen 21.30 Uhr. Nach einer Taxifahrt nach Hause gönnt sich der Beschäftigte dann um 22.15 Uhr nach seiner Rückkehr sofort ein Glas Bier. Der Beschäftigte war insgesamt 16 Stunden und 45 Minuten unterwegs. Während der Zugfahrt hat der Beschäftigte Zeitung und einen Roman gelesen und ein paar kürzere private und dienstliche Telefonate geführt. Regulär hätte der Beschäftigte im Büro im Rahmen eines Gleitzeitsystems – wenn er nicht auf Dienstreise gewesen wäre – von ca. 9.00 Uhr bis ca. 17.00 Uhr gearbeitet.
Zunächst ist wichtig, dass die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts traditionell zwischen der vergütungsrechtlichen Ebene und der arbeitsschutzrechtlichen Ebene (und darüber hinaus auch nach der für den Betriebsrat wichtigen mitbestimmungsrechtlichen Ebene) der Reisezeit unterscheidet. (§ 2 Abs. 1 ArbZG)

Die vergütungsrechtliche Seite
Nachdem das Bundesarbeitsgericht – angestoßen durch viele einschlägige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs – die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Leistung des Beschäftigten auch außerhalb der eigentlichen „Kernarbeitsleistung“ und damit die Fremdnützigkeit der Erbringung von Arbeitsleistung auch im Falle von Umkleide- und Waschzeiten betont hat, hat das Bundesarbeitsgericht seit dem Jahre 1998 in vielen Schritten sich für die Reisezeiten diesem grundsätzlichen Ansatz angeschlossen: Es kommt jetzt nach der bahnbrechenden neuen Entscheidung des Bundearbeitsgerichts vom Oktober letzten Jahres nicht mehr auf die (von vielen Einzelfaktoren geprägte) „Vergütungserwartung“ des Beschäftigten an, vielmehr gehört die Reisezeit im Falle einer angeordneten Dienstreise zum Bereich der im fremdnützigen Arbeitgeberinteresse erbrachten Leistungen und ist damit zu 100 Prozent vergütungspflichtig. Es kommt auch nicht darauf an, ob während der Reisezeit der Beschäftigte geschlafen oder Zeitung gelesen oder effektiv gearbeitet hat. Es kommt auch nicht mehr (wie es nach der früheren Rechtsprechung der Fall war) darauf an, ob der Beschäftigte oft oder weniger oft reist, ob Reisezeiten zu seinem „Berufsbild“ gehören, andere Umstände für eine Vergütungserwartung sprechen („betriebliche Übung“) und wie hoch seine Vergütung ist und Reisezeiten ggf. als „mitabgegolten“ gelten können. Reisezeit ist voll zu vergüten, weil diese Leistungserbringung vom Arbeitgeber angeordnet wird.

Reisezeit ist voll zu vergüten, weil diese Leistungserbringung vom Arbeitgeber angeordnet wird.

Im obigen Beispiel muss also die gesamte Zeit von 16 Stunden um 45 Minuten (abzüglich möglicher unbezahlter Pausen) vergütet beziehungsweise dem Arbeitszeitkonto als geleistete Zeit gutgeschrieben werden.

Vertragliche und tarifvertragliche Abweichung möglich
Allerdings: In Arbeits- und Tarifverträgen kann von diesem Grundsatz (unter Beachtung des Mindestlohngesetzes als Untergrenze) Abweichendes geregelt werden. Es ist davon auszugehen – erste Erfahrungen zeigen dies –, dass die Arbeitgeber vermehrt Beschäftigten vertragliche Regelungen zur Reisezeitvergütung vorlegen werden. Kein Beschäftigter muss solche Vertragsänderungen akzeptieren. Eine Prüfung und Beratung von den Juristinnen und Juristen im Rechtsbereich der IG Metall ist angezeigt.

Exkurs zur Wegezeit
Der Weg von Zuhause zum Arbeitsort ist als sogenannte „Wegezeit“ nicht vergütungspflichtig. Es handelt sich nicht um eine fremdnützige Tätigkeit und somit auch nicht als vergütungspflichtige Reise- und vollwertige Arbeitszeit. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitsort nach einer Versetzungsmaßnahme (dauerhaft oder zeitlich begrenzt) sich ändert. Anders ist aber der Fall zu bewerten, dass auf Anordnung des Arbeitgebers (bei Existenz eines Stammbetriebes oder auch ohne Existenz eines Stammbetriebes) der Beschäftigte von zu Hause aus den ersten Kundenbesuch vornimmt (oder zu einem Meeting fährt) bzw. vom letzten Kundenbesuch (oder Meeting) direkt nach Hause fährt. In diesem Fall – empirisch gesehen kein seltener Fall – muss der Arbeitgeber diese Zeiten ebenfalls zu 100 Prozent als Arbeitszeit vergüten.

Die arbeitsschutz- bzw. arbeitszeitrechtlichen Seite
Nach der bislang nicht geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gehört die Reisezeit bei Dienstreisen nicht zur schutzrechtlichen Arbeitszeit, sondern gleichsam zur Erholungszeit. Das gilt nur dann nicht, wenn während der Reisezeit gearbeitet wird (obiges Beispiel: Diensttelefonate) oder ein Fahrzeug selbst geführt wird. Auch wenn Bahnfahren, Wartezeiten auf dem Flughafen und Fliegen in beengtem Flugzeug und das Mitfahren im Auto bekanntlich sehr anstrengend sein können, soll es sich nicht um belastende Aktivitäten handeln. Diese Rechtsprechung wird zunehmend angegriffen und in Frage gestellt. Es sollen jetzt Fälle gezielt zum Bundesarbeitsgericht gebracht werden, um diese Rechtsfragen erneut zur Entscheidung zu stellen. Die Rechtsprechung ist mit Blick auf europarechtliche Entwicklungen und die Rechtsprechung zur Vergütung von fremdnütziger Reisezeit nicht mehr zeitgemäß und unter systematischen Gesichtspunkten nicht mehr haltbar.

Für den obigen Fall heißt das, dass der Beschäftigte nicht nach zehn Stunden (inklusive der Reisezeiten) hätte seine Tätigkeit abbrechen müssen, sondern er durfte weiterarbeiten und hat keine arbeitszeitrechtlichen Vorgaben verletzt (§ 3 ArbZG). Wenn sich die richtige Rechtsauffassung der Kritiker der Rechtsprechung durchsetzt, muss die Dienstreisepraxis gerade bei „Tagesdienstreisen“ neu durchdacht werden und sich gravierend ändern. Unter gesundheitsschutzrechtlichen und arbeitswissenschaftlichen Gesichtspunkten wäre eine veränderte Praxis sehr zu begrüßen.

Kann in Betriebsvereinbarungen vom Grundsatz der Vergütungspflicht der Reisezeit abgewichen werden?

Nach einer jüngeren Entscheidung des LAG Düsseldorf soll dies möglich sein und viele Arbeitgeber haben in der Vergangenheit und versuchen gegenwärtig, über diesen Weg der Vergütungspflicht zu entgehen (vom 14.12.2018 – Az. 10 Sa 96/18). Leider gehen viele Betriebsräte diesen Weg mit. Diese Entscheidung ist im höchsten Maße fragwürdig und kann keinen rechtlichen Bestand haben: Zum einen kann nur im Arbeitsvertrag (oder Tarifvertrag) von der Vergütungspflicht abgewichen werden. Solange eine solche Abweichung nicht geregelt ist, ist die vertragliche Regelung mit dem aus § 611a Abs. 2 BGB folgendem Vergütungsanspruch günstiger als die Betriebsvereinbarung. Das Günstigkeitsprinzip gilt und wird auch nicht so ohne weiteres durch die Kollektivregelung einer Betriebsvereinbarung ausgehebelt.

Betriebsräte und Betriebsrätinnen aufgepasst!
Zum anderen verstößt die Betriebsvereinbarung gegen § 77 Abs. 3 BetrVG, soweit ein Tarifvertrag gilt. Der Tarifvertrag regelt die Entgelthöhe und die Vergütungspflicht und diese kann durch Betriebsvereinbarung nicht geregelt werden. Am Ende werden die Gerichte entscheiden, aber die Beschäftigten sollten sich auch durch begrenzende Regelungen in Betriebsvereinbarungen nicht von einer Geltendmachung und Klage hinsichtlich berechtigter Forderungen abhalten lassen.

Das Arbeitszeitrecht ist in Bewegung. Achten Sie auf Ihre Rechte. Lassen Sies ich als Mitglied beraten. Das darf nicht auf die lange Bank geschoben werden, denn innerhalb von drei Monaten ab Fälligkeit muss eine schriftliche Geltendmachung erfolgen und binnen drei weiterer Monate wegen der tarifvertraglichen Ausschlussfristen Klage erhoben werden, sonst verfallen die Ansprüche.

Nils Kummert ist in der Kanzlei dka Fachanwalt für Arbeitsrecht.

Von: nk

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