12.04.2021 | Die Transformation kann gelingen – mit einer intelligenten und vorausschauenden Industriepolitik und einem hohen Organisationsgrad der Beschäftigten im Rücken, sagt Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin.
In Berlin fehlen im Vergleich zu anderen deutschen Städten rund 90.000 Industriearbeitsplätze. Bei Daimler und Siemens Energy sollen nun weitere dieser Arbeitsplätze abgebaut werden. Was bedeutet das für die Stadt?
Eine Stadt mit weniger Industriearbeitsplätzen ist ein klarer Wettbewerbsnachteil. Mit den Arbeitsplätzen fehlen auch Wertschöpfung und Steuereinnahmen für eine sozialere Stadt. Natürlich ist so ein Loft in einem ehemaligen Fabrikgebäude hipp. Volkswirtschaftlich sind mehr Industriearbeitsplätze deutlich hipper für die Stadt.
Der Druck auf die Industriearbeitsplätze nimmt in der Transformation weiter zu. Überwiegen die Chancen oder die Zumutungen?
Für mich überwiegen die Chancen. Das aber liegt auch in unserer Hand. Berlin ist ein Magnet – kulturell, aber auch industriepolitisch. Wir verfügen über großartige Hochschulen und Forschungsinstitute. Wir sind die Stadt der Plattform- und Start-up-Ökonomie, deren Beschäftigte wir als IG Metall Berlin ebenfalls betreuen. Wenn es uns gelingt, unsere Industrie zu stärken und dafür zu sorgen, dass hier in Berlin auch die Produkte und Komponenten der Zukunft entstehen, dann kann Berlin zu einem Leuchtturm der Transformation werden. In diesem Sinne haben wir die einmalige Chance, die Industriepolitik aktiv mitzugestalten und unsere Ideen eines sozial gerechten Wandels durchzusetzen.
Wie kann dieses Ziel erreicht werden?
Zum einen braucht es ein klares Bekenntnis der Politik zum Industriestandort Berlin und auch Deutschland. Zum anderen müssen wir in unseren Betrieben unsere Hausaufgaben machen. Zum Beispiel bei Daimler und Siemens. Bei Daimler hat der Vorstand nun angekündigt, einen Digital-Campus zu errichten. Außerdem sollen E-Komponenten gefertigt werden. Die Verhandlungen über die Zukunft aber beginnen erst – und ohne Produktion am Standort geht für uns gar nichts.
Und bei Siemens Energy?
Hier kritisieren wir, dass der Vorstand für den Klimaschutz bedeutende Schlüsseltechnologien nach Ungarn verlagern will. Gasturbinen sind eine wichtige Brückentechnologie und eröffnen gerade im Zusammenspiel mit Wasserstoff ganz neue Perspektiven. In den Entwicklungsabteilungen entstehen Turbinen mit noch höheren Wirkungsgraden und Wasserstoff als Beimischung reduziert den Gasverbrauch. Wer Klimaschutz ernst meint, muss dafür sorgen, dass diese in Berlin entwickelten Technologien auch hier in der Huttenstraße gefertigt werden.
Wie kann die IG Metall ihre Forderungen durchsetzen?
Indem auch wir neue Wege gehen und uns sehr viel stärker in den Betrieben einmischen. Die Mitbestimmung im Zusammenspiel mit unseren machtpolitischen Optionen ermöglicht uns, dass wir sehr viel stärker als bisher in die Abläufe in den Unternehmen eingreifen. Und das auch über die einzelnen Unternehmen hinaus. Auch das ist die Stärke einer gut aufgestellten IG Metall. Denn wir wollen mit der Unternehmensleitung nicht erst am Tisch sitzen, wenn es um den Abbau von Arbeitsplätzen und um Sozialpläne geht. Wir wollen davor kurzfristige, renditegetriebene Entscheidungen der Unternehmensleitung hinterfragen, damit Arbeitsplätze gar nicht erst in Frage gestellt werden.
Was ist dafür notwendig?
Wenn wir in den Betrieben einen Organisationsgrad von 70 Prozent IG Metall-Mitgliedern und mehr haben, dann haben wir auch die Macht, das Unternehmen zu kontrollieren und die Entscheidungen der Leitungsebene notfalls auch zu torpedieren. Dafür brauchen wir ein Mandat der Beschäftigten und das erhalten wir über ihre Mitgliedschaft. Diese ist die Eintrittskarte zu den Schaltzentralen der Unternehmen.
Es geht also um die Macht?
Ja. Und zwar im positiven Sinne. Wir sehen doch in der Tarifrunde, dass viele Vorstände und Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung nicht gerecht werden. Sie kassieren aus Steuermitteln finanziertes Kurzarbeitergeld, verlagern Produktionen ins autoritär regierte Ungarn und schütten Rendite an ihre Aktionäre aus, anstatt es zum Beispiel in ihre Mitarbeiter zu investieren. Stattdessen wollen sie ihnen auch noch ans Geld, obwohl diese die Wertschöpfung in ihren Unternehmen erarbeiten. Hier können wir über die Mitbestimmung im Zusammenspiel mit einer kraftvollen IG Metall den Arbeitgebern reingrätschen.
Wie wird sich die Arbeit der IG Metall und von Betriebsräten ändern?
Zum einen müssen wir proaktiver arbeiten. Die Beschäftigten in den Betrieben wissen im Zweifel vor ihren Werksleitern, wenn es klemmt und rote Zahlen drohen. Schon zu diesem Zeitpunkt können wir – Betriebsräte und IG Metall – aktiv werden, uns einmischen und positive Entscheidungen einfordern. Gerade der Klimawandel verlangt es zum anderen, dass wir lokale Fertigungsketten stärken und einfordern. Wir müssen dafür auch von zersplitterten Wertschöpfungsketten wegkommen und Produktionszyklen vom Anfang bis Ende vor Ort denken. Kurze Wege bedeuten weniger CO2-Ausstoß. Hier müssen wir auch in der Politik Unterstützer für diese Positionen finden.
Welche Rolle kann und muss die Berliner Politik spielen?
Der Senat kann die Transformation gut flankieren, indem er sich zum Industriestandort Berlin bekennt und danach handelt, er die Ansiedlung von Unternehmen fördert und sich für die Belange der Beschäftigten einsetzt, wie er das in den vergangenen Jahren bei einigen Konflikten auch unter Beweis gestellt hat.
Was bedeutet das im Vorfeld der anstehenden Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September?
Wir wollen keine Wohlfühlrunden, sondern fordern einen knallharten Diskurs ein. Ob CDU oder SPD, Grüne, Linke oder die FDP, wir haben eine klare Erwartungshaltung in Sachen Industriepolitik und hinsichtlich des Industriestandorts Berlin. Wir wollen Berlin zum Leuchtturm einer positiven Transformation machen. Berlin ist nach wie vor sexy, statt hippen Lofts in Fabrikgebäuden wollen wir aber, dass es dort brummt und lärmt und möglichst viele Berlinerinnen und Berliner zukunftssichere Arbeitsplätze haben.