03.04.2021 | Pandemie-Zeiten sind schwierige Zeiten für große Sprünge. Trotzdem haben sich in den vergangenen Wochen bundesweit eine Million Metaller*innen für bessere Arbeits- und Tarifbedingungen stark gemacht – so stark, dass ein für Corona-Zeiten anständiger Pilotabschluss in Nordrhein-Westfalen herausgekommen ist. Warum das so ist, vor welchen Herausforderungen Berlin mit dem Thema Angleichung der ostdeutschen Arbeitsbedingungen an das West-Niveau steht und wie es in Berlin weitergeht, erläutert Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin, im Interview.
Jan, Hand aufs Herz: Wie ist Dein Blick auf den Pilot-Tarifabschluss in NRW?
Es ist ein sehr guter Abschluss, vor allem wenn wir bedenken, wie sehr die Arbeitgeberverbände zu Beginn gemauert haben. Nullrunde und die Miesmachung ihrer eigenen Tarifverträge: Das hat es in dieser Form lange nicht mehr gegeben. Wir haben aber bewiesen, dass wir auch unter Pandemie-Bedingungen kampfbereit sind. Gelandet sind wir bei 2,3 Prozent. Auch wenn diese nicht direkt auf die Tabelle gehen, ist es doch ein Erfolg. Man muss sich den Abschluss auch in Gänze anschauen. Er ist in dieser Situation mehr als angemessen, aber ich sage ganz klar: Es ist KEIN Corona-Abschluss. Alles, was wir zu den Themen Beschäftigungssicherung und Zukunftsvereinbarungen gefordert haben, war auch vor der Pandemie sichtbar. Es wurde nur beschleunigt. Und wenn wir alles richtig machen, nutzen auch wir diese „Beschleunigung“ in unserem Sinne.
Ist die Entgeltfrage gut geklärt?
Nein, auch hier bin ich deutlich und ehrlich. Besser wäre es gewesen, wir hätten eine tabellarische Erhöhung der Entgelte direkt bekommen. Das war aber diesmal nicht drin und beißt sich auch mit unserer Forderung nach Beschäftigungssicherung. Wir mussten uns entscheiden – und der jetzige Abschluss sichert Beschäftigung in großem Umfang. Wenn das nicht gebraucht wird, gibt es einmal jährlich ab nächstem Jahr einen „kräftigen Schluck aus der Pulle“ oder eben mehr „Zeit“ und trotzdem nicht weniger Geld.
Ein schöner Erfolg ist das Transformationsgeld. Wie funktioniert es?
Die Lohnerhöhung soll nicht monatlich, sondern gebündelt einmal im Jahr ausgezahlt werden, vergleichbar mit der zusätzlich verhandelten Corona-Prämie. Die Lohnerhöhung ist für kommende Jahre garantiert und kann auch in Freizeit umgewandelt werden. Sprich: Wenn ein Betrieb krisenbedingt weniger Aufträge hat, muss er deswegen nicht seinen Mitarbeiter*innen kündigen, sondern reduziert stattdessen die Arbeitszeit pro Mitarbeiter*in, die so weniger heftige finanzielle Einbußen hinnehmen müssen und auch nicht ihren Job verlieren. Damit kommen wir als IG Metall den Unternehmen entgegen, die ihre Betriebe nach der Coronakrise oder mit Blick auf die bevorstehende Transformation umbauen müssen, um zu überleben.
Der Tarifvertrag gilt erstmals auch für dual Studierende, die ab sofort Teil des Tarifsystems sind. Sie profitieren jetzt genauso wie Auszubildende davon, dass sie nach dem Abschluss übernommen werden. War das schwer durchzusetzen?
Ja, das war eine jahrelange Diskussion, die jetzt klar beantwortet werden konnte. Damit ergeben sich erhebliche Verbesserungen für die Dual-Studierenden. Und auch für sie wird damit die Übernahme klar empfohlen.
Ein weiteres wichtiges, aber auch schwieriges Thema waren die Zukunftstarifverträge, mit denen wir unsere Betriebe und Arbeitsplätze zukunftssicher organisieren wollen. Wie können unsere Berliner Betriebe davon in Zukunft profitieren?
Wir werden in den nächsten Monaten Betrieb für Betrieb schauen, welche Themen in einem Zukunfts-Tarifvertrag verhandelt werden müssen, um die Zukunft zu sichern. Hierbei hilft uns der Abschluss enorm, da wir in diesem Bereich nicht mehr reine „Pionier“-Arbeit machen müssen. Bisher zeigten sich die Arbeitgeber oft sehr überrascht, wieso wir so etwas mit Ihnen verhandeln wollten. Wir wussten das allerdings ganz genau: Denn in der Regel ist der Vorschlag der Arbeitgeber bei Zukunftsproblemen Personalabbau. Das kann und muss man anders regeln. Dafür treten wir in Berlin an.
Wir leben in einer Stadt, die über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch von einer Mauer durchschnitten wird, wenn auch einer unsichtbaren: Die Kolleg*innen im Osten müssen drei Stunden pro Woche länger arbeiten als die im Westen. De facto ist das eine Lohnkürzung von acht Prozent. Wie bauen wir jetzt Druck auf, damit wir hier weiterkommen?
Als geborener Köpenicker trifft mich das auch emotional enorm. Es reicht einfach langsam. 30 Jahre lang gespart, 30 Jahre lang die deutsche Einheit in Berlin nicht auf tariflicher Ebene nachvollzogen, das ist der Wahnsinn des Kapitals. Aber auch wir haben hier Nachholbedarf. Die Lage spitzt sich zu, die ostdeutschen Arbeitgeberverbände verweigern oder verschleppen die Gespräche über ein tarifliches Angleichungsgeld. Hier müssen wir jetzt klare Kante zeigen. Für Berlin gilt: Im ehemaligen „Osten“, im sogenannten Tarifgebiet II, werden wir mit einigen Betrieben solidarische Aktionen durchführen. Und wer sich jetzt angesprochen fühlt, kann sich gerne mit uns direkt auf den Weg in Warnstreiks machen. Dafür muss man sich nur mehrheitlich organisieren! Im ehemaligen Westteil der Stadt, dem Tarifgebiet 1, werden wir solidarisch Aktionen durchführen. Wir planen auch hier einen größeren 24h-Streik. Wo verraten wir aber noch nicht.
Wir IG Metall-Mitglieder engagieren uns und zahlen Beiträge, damit wir gute Ergebnisse bekommen. Die, die keine Mitglieder sind, zahlen keine Beiträge und engagieren sich nicht, bekommen aber die gleichen Tariferhöhungen. Auch das ist nicht fair, oder?
Nein. Aber ich denke, dass das sogenannte „Trittbrettfahren“ immer schwieriger werden wird. So wie uns die Arbeitgeber mittlerweile angreifen, muss man allen, die denken: „ich bekomme das doch sowieso“, deutlich sagen: Wenn Ihr so weiter macht, werden die tariflichen Errungenschaften für ALLE in Frage gestellt werden. Und das verhindern wir nur, indem wir uns breit organisieren. Mittlerweile ist doch sogar für die, die früher dachten, die IG Metall ist nur was für die Produktionsmitarbeiter, klar, dass wir alle in einem Boot sitzen. Besser ist es immer, sich gemeinsam solidarisch aufzustellen. Und eine Unterschrift unter den Mitgliedsantrag ist ja wohl einfach gemacht!
Corona und Tarifrunde haben an den Kräften gezehrt. Wie geht es in Berlin weiter, wenn wir die Reserven wieder aufgefüllt haben?
Wir brauchen keine Atempause. Wir wissen, dass wir jetzt unsere Zukunft gestalten müssen und dafür stellen wir uns auf. Unser Ziel, die Transformation aktiv zu gestalten, haben wir klar im Blick. Es geht um nicht weniger als die Zukunft der Industrie in Berlin und damit auch im gesamten Land. Vor dieser Verantwortung drücken wir uns nicht.