Interview

"Ich betrachte die Erschließung als elementaren Teil gewerkschaftlichen Arbeitens"

08.02.2024 | Unser Zweiter Bevollmächtigter Philipp Singer stellt sich vor. Im Interview spricht er über seine Herkunft, seinen bisherigen Weg in der IG Metall und seinen Blick auf die Geschäftsstelle Berlin.

Philipp Singer in Aktion bei ASML

Herzlichen Glückwunsch zur Wahl als Zweiter Bevollmächtigter! Was ist Dein Ziel als Zweiter Bevo?

„Unsere IG Metall Berlin noch stärker machen!“ Das ist mein klares Ziel, mit dem ich zur Wahl angetreten bin. Und ich bedanke mich herzlich für das Vertrauen. Ich freue mich darauf, mit Jan Otto und einem hervorragenden Team, jetzt als Zweiter Bevollmächtigter daran mitzuwirken.

Wo kommst Du her? Was hat Dich geprägt?

Geboren wurde ich in Mitte und habe danach kurze Zeit mit meinen Eltern im Prenzlauer Berg gewohnt. Aufgewachsen bin ich dann aber im Hellersdorfer Plattenbau. Damals war dieser Plattenbau gerade neu gebaut worden und stand ohne Infrastruktur auf Sandboden. Schon als Kind habe ich in der Nachbarschaft meine ersten Erfahrungen mit Zusammenhalt und Solidarität gemacht. Das hat sich bei mir dann wie ein roter Faden durch mein junges Leben gesponnen.

Schon in meiner Schulzeit wurde ich zum Klassen- und später Schulsprecher gewählt. Später während meiner Berufsausbildung war ich Jugend- und Auszubildendenvertreter. Meine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker habe ich in der BMW Niederlassung in Berlin gemacht.

Was mich antreibt, ist das ständige Streben nach Gerechtigkeit. Das teile ich mit vielen meiner Kolleginnen und Kollegen im Ehrenamt und in der Hauptamtlichkeit: Der unbedingte Drang danach, „die Welt zu verbessern“ und dafür zu sorgen, dass es Menschen am Ende des Tages spürbar besser geht.

Wie alt bist Du eigentlich?

Ich bin 1988 geboren und werde bald 36.

Ach spannend, dann warst Du beim Mauerfall noch gar nicht so alt…

Also war ich fast zwei Jahre alt, als die Mauer gefallen ist. Jetzt könntest Du sagen, dass ich Ost-Berliner bin. Aber ich mag dieses Denken nicht. Ich bin Berliner und das mit ganzem Herzen. Für mich gibt es nur ein Berlin. Für mich gibt es ein Land. Und für mich sind auch alle Menschen in dieser Stadt und in diesem Land, unabhängig von ihrer Herkunft, gleich und gleich viel wert.

Und wie bist Du Metaller geworden?

Zu Beginn meiner Ausbildung haben die JAV und die IG Metall eine Info-Runde für alle neuen Azubis im Betrieb veranstaltet: da bin ich eingetreten. Kurz danach habe ich bereits angefangen, mich im Ortsjugendausschuss der Geschäftsstelle zu engagieren. Constantin Borchelt war zu dieser Zeit Jugendsekretär in Berlin. Arno Hager war Erster Bevollmächtigter und Klaus Abel, Zweiter Bevollmächtigter. Dann bin ich auch im Bezirks-Jugendausschuss aktiv gewesen und habe als Jugendbildungsreferent Seminare für Azubis und Jugendvertreter gegeben. Auf betrieblicher Ebene habe ich in dieser Zeit auch verschiedene Funktionen übernommen. Parallel zur JAV wurde ich gefragt, ob ich nicht auch bei den Vertrauensleuten und in der betrieblichen Tarifkommission mitarbeiten wolle. Ich hatte das Glück, relativ schnell die verschiedenen Perspektiven einnehmen zu können. Obwohl ich noch neu war, bin ich schnell Anlaufstelle für alle möglichen Beschäftigten im Betrieb gewesen.

Wann bist Du dann in die Hauptamtlichkeit in die IG Metall gewechselt?

Zum 1. November 2013 habe ich in Bautzen, heute die Geschäftsstelle Ostsachsen, angefangen. Ich hatte den klassischen Einstieg als Jugendsekretär und habe dann schnell auch Anfragen aus Betrieben übernommen, war zuständig für den Vertrauensleute-Ausschuss, habe Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit mitverantwortet und habe häufig auch Organisationsaufgaben für die Geschäftsstelle mitübernommen. Schnell habe ich dann auch Haustarifverträge verhandelt. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Zeit in der IG Metall müsste schon länger sein als sie es tatsächlich ist. Wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, ist viel passiert.

Und wie kam es zum Wechsel in die Erschließung nach Ludwigsfelde und Potsdam?

In Ostsachsen hatten wir leider viel mit Abwehrkämpfen zu tun. Es sollten Werke von Bombardier (heute Alstom) und Siemens geschlossen werden. Als Jan Otto 2015 Erster Bevollmächtigter wurde, hat sich die Kultur in der Geschäftsstelle und in der Region spürbar verändert. Wir haben unsere gewerkschaftliche Arbeit viel stärker nach den Methoden der Erschließung ausgerichtet. Wir haben in den Betrieben mit Organizing-Methoden gearbeitet, um die Belegschaften zu stärken und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen durchzusetzen. Diese Arbeit hat mich fasziniert und ich betrachte die Erschließung als elementaren Teil gewerkschaftlichen Arbeitens. Mit dem Wechsel in das bezirkliche Erschließungsprojekt hatte ich die Möglichkeit, diese Methoden zu intensivieren und dies auch noch näher an meiner Heimatstadt Berlin.

Ich hatte das große Glück, so erfahrene Kollegen wie Andreas Kahnert kennenzulernen und von seinem Erfahrungsschatz zu profitieren. Beispielsweise haben wir Rosenbauer in Luckenwalde, die Fahrzeuge für die Berliner Feuerwehr bauen, in die Tarifbindung gebracht. Das Unternehmen war vorher nicht tariflich gebunden und der Arbeitgeber wollte auch keinen Tarifvertrag. Aber die Belegschaft wollte den Tarifvertrag und hat sich dafür organisiert. Wir haben dort unter anderem auch ERA eingeführt. Am Ende haben die Kolleginnen und Kollegen dort deutlich bessere Arbeitsbedingungen gehabt, als es sie ohne Tarifvertrag gab.

Seit fast drei Jahren bist Du zurück in Berlin? Was hast du in dieser Zeit gemacht?

Ab Mai 2021 bin ich als Erschließer im bezirklichen Projekt in die Geschäftsstelle Berlin gewechselt, da war Jan Otto hier bereits zum Ersten Bevollmächtigten gewählt worden. Schon ab Mai 2022 gehörte ich dann fest zum Team IG Metall Berlin. Ob Erschließer oder nicht, macht in unserer Arbeit allerdings keinen Unterschied. Denn mit einem Bevollmächtigten, der aus der Erschließungsarbeit kommt, sind sowieso alle in einer Geschäftsstelle Erschließer/-innen. Ich hatte das große Glück, bei einem meiner ersten Termine in der Geschäftsstelle mit zu den Kollegen von ASML zu kommen. Damals hießen sie noch Berliner Glas.

Der Betrieb war damals deutlich kleiner, etwa 600 Beschäftigte. Heute arbeiten bei ASML rund 1.800 Menschen und die Tendenz ist steigend. Ich konnte damals in eine gut fundamentierte Erschließungsarbeit miteinsteigen und hatte das Glück, in den letzten zwei Jahren die komplette Tarifbewegung zu begleiten- von der Wahl der Tarifkommission bis zur erfolgreichen Einführung des Haustarifvertrages. Als Verhandlungsführer bin ich gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Tako durch die insgesamt 14 Verhandlungsrunden gegangen. Bei ASML haben wir in einem sehr hohen Tempo diesen Weg geschafft. Und wir haben uns als IG Metall dort auch getraut, Dinge auszuprobieren, die inzwischen auch andernorts genutzt werden. Prozesse, die in anderen Betrieben oft Jahre in Anspruch nehmen, haben wir bei ASML in einem sehr komprimierten Zeitraum durchlebt.

Das war manchmal wie Zeitraffer. Ich habe neulich den Betriebsrat auf seiner Klausur zu Beginn des Jahres besucht. Gemeinsam haben wir nochmal auf die Wegstrecke geschaut und die Kolleginnen und Kollegen sind immer noch sehr begeistert, was passiert ist. Viele sind immer noch erstaunt, wie wir das gemeinsam geschafft haben. Ich höre immer noch von einzelnen Beschäftigten: „Krass, was wir hier hinbekommen haben.“ Auch Leute, die frisch dazu kommen, kriegen sehr schnell mit, was hier passiert ist. Sie wissen zu schätzen, dass sie von Umständen profitieren, für die sich andere die letzten zwei Jahre ziemlich aufgerieben haben.

Ohne diese tolle Belegschaft, die sich so schnell organisiert hat und die bei jeder sich bietenden Gelegenheit so mitgezogen hätte und wenn das Vertrauensverhältnis nicht so stark gewesen wäre, wäre dieser Prozess nicht so gelaufen.

Welche Ansätze verfolgst Du als Zweiter Bevollmächtigter?

Ich bin überzeugt davon, diesen richtigen Weg, den wir als IG Metall Berlin in den letzten drei Jahren beschritten haben, weiterzugehen und das Fundament noch stärker zu machen. Ich bin an dieser Stelle mit der gleichen Sichtweise wie Jan Otto unterwegs. Wir müssen konsequent sein in unserer Arbeit. Wir müssen unsere Ideen, unser Leitbild konsequent umsetzen. Wir knüpfen Bedingungen an unsere Arbeit und wir machen nichts für die Kolleginnen und Kollegen, was sie nicht im Zweifel selber machen können. Wir stärken ihnen aber in den Fragen den Rücken, die sie nicht selber übernehmen können. Und die Bedingung dafür ist, dass sie sich vorher organisieren. Wir haben in Berlin mehr als 450 Betriebe und mehr als 33.000 Mitglieder. Wir können mit unserem Team also nicht jeden Prozess begleiten, sondern müssen uns fokussieren. Deshalb ist mir eine Stärkung der Belegschaften wichtig.

Ich bin auch überzeugt, dass es ein Emanzipationsprozess ist, den diese Gesellschaft dringend braucht. Die ganze Welt wird von hier aus sicher nicht verändert, aber im regionalen und lokalen Kontext hier in Berlin kann ich schon darauf hinwirken, dass Belegschaften für sich erkennen, dass sie selbst die Stärke haben, ihre Anliegen kollektiv mit und in der IG Metall zu regeln. Wenn ich das als Zweiter Bevollmächtigter noch stärker unterstützen kann, sind wir auf dem richtigen Weg.

Stärkt gewerkschaftliches Arbeiten die Demokratie?

Wir haben das große Glück in unserem Land, dass gewerkschaftliche Organisierung und gewerkschaftliche Arbeit im Rahmen der Koalitionsfreiheit ein Grundrecht sind. Demokratie endet eben nicht am Werkstor, sondern darf und muss in die Betriebe hineinwirken. Studien belegen, bessere Arbeitsbedingungen auch ein besseres soziales Miteinander schaffen. Soziale Spannungen treten natürlich auch eher dort auf, wo die wirtschaftlichen Grundlagen nicht so gegeben sind. Wo ich aufgewachsen bin, war das teilweise deutlich zu erkennen. Wir haben als Gewerkschaft eine Schlüsselrolle und müssen diese auch wahrnehmen.

Wo tankst Du neue Energie?

So oft es geht verbringe ich Zeit mit der Familie und Menschen, die mir viel bedeuten. Außerdem reise ich seit vielen Jahren immer wieder in den hohen Norden, unter anderem nach Island und Norwegen. Mit meiner Kamera dort oben die raue und oft unberechenbare Natur zu fotografieren, lässt mich entspannen. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Damit lade ich meinen Akku wieder auf.

Letzte Frage: Was macht für Dich das Team in der IG Metall aus?

Unser Team ist unglaublich progressiv und vielseitig. Ich habe selten erlebt, dass die Leute in einem Team mit so einem vermeintlich einheitlichen und am Ende doch unterschiedlichen Spirit unterwegs sind. Alle im Team sind eigene Typen und genau das zeichnet uns aus. Unser Ziel und die Stoßrichtung ist dieselbe: Es soll gewerkschaftlich nach vorne gehen. Das Leitbild der IG Metall Berlin zeichnet ein klares Bild des Wachstums und des Wegs nach vorne für die IG Metall und eine Stärkung unserer Geschäftsstelle. Und unser Team steht geschlossen hinter diesem Leitbild. Wir haben in unserem Team kein Oben und Unten – daher bleibe ich Teil des Teams, auch in meiner Funktion als Zweiter Bevollmächtigter.

Das Interview führte Andrea Weingart.

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